Ferdinand von Schirach: Schuld

Thursday 15 July 2021

Die Sommerferien stehen vor der Tür bzw. haben vielerorts schon begonnen. Vielleicht suchen Sie für die schulfreien Tage noch eine kurzweilige Lektüre, die vielschichtig und anspruchsvoll genug ist, um im neuen Schuljahr im Unterricht zum Einsatz zu kommen...? Meine Empfehlung: Der Kurzgeschichtenband Schuld des Schriftstellers (und Strafverteidigers) Ferdinand von Schirach. Es ist nach Verbrechen der zweite Erzählband Schirachs und wurde auch fürs Fernsehen verfilmt.  

Der Titel des Buches fasst bereits das große und globale Thema zusammen: Es geht in Schirachs Geschichten immer in irgendeiner Form um « Schuld » - um schuldig sein oder schuldig werden, durch Vorsatz oder durch Zufall. Es geht auch um Opfer und Täter und wie diese beiden Kategorien sich überschneiden und nicht immer eindeutig zu trennen sind. Der Autor stellt in seinen Erzählungen durchgängig die Frage nach Recht und Gerechtigkeit bzw. zeigt auf, dass diese oft nicht deckungsgleich sind. Die Frage der Gerechtigkeit wirft wiederum die Frage nach den gesellschaftlichen und individuellen Werten auf, anhand derer Gerechtigkeit von uns bzw. dem Leser definiert wird. Schirach bringt uns zum Nachdenken. In jeder Geschichte neu und auf andere Weise. Es werden viele Fragen aufgeworfen: Was hätte ich in dieser Situation getan? Wer ist Opfer, wer Täter? Gibt es eine angemessene Strafe? Welche Rolle spielt der Zufall im Leben?

Schirachs Sprache ist präzise, sachlich und knapp. Ihm gelingt es in kurzen parataktischen Sätzen das Dilemma der beschriebenen Situation zu verdeutlichen und dem Leser vor Augen zu führen. Die Erzählungen enden immer plötzlich, manchmal überraschend, sie zeigen das Leben wie es sein kann und wie es ist. In der Erzählung Volksfest skizziert Schirach die späteren Vergewaltiger eines jungen Mädchens zu Beginn der Geschichte mit einfachen und wenigen Worten, wobei die sprachliche Verknappung das Ungeheuerliche besonders hervorhebt. "Es waren ordentliche Männer mit ordentlichen Berufen: Versicherungsvertreter, Autohausbesitzer, Handwerker. Es gab nichts an ihnen auszusetzen. Fast alle waren verheiratet, sie hatten Kinder, bezahlten ihre Steuern und Kredite und sahen abends die Tagesschau. Es waren ganz normale Männer, und niemand hätte geglaubt, dass so etwas passieren würde." Die Geschichte endet ohne eine Strafe für die Täter. Der Ich-Erzähler, ein junger Anwalt, der zu der Gruppe der Verteidiger gehört, kann den "Sieg" jedoch nicht genießen. Gemeinsam mit einem anderen jungen Kollegen steht er nach der Haftprüfung am Bahnhof, ohne ein Wort zu reden. "Wir wussten, dass wir unsere Unschuld verloren hatten (...) als wir ausstiegen, wussten wir, dass die Dinge nie wieder einfach sein würden."

In einer anderen Erzählung mit dem Titel Ausgleich verarbeitet Schirach das Thema der häuslichen Gewalt. In direkten und schnörkellosen Worten bringt der Autor dem Leser das Leid einer jungen Frau nahe, die über Jahre unter ihrem sadistischen Ehemann stumme Qualen erleidet und sich erst sehr spät - als die Gewalt auf ihre Tochter überzugreifen droht - aus ihrer Situation befreit. "Er machte es stumm. Er hatte früher geboxt und wusste, wie man schlägt, um wehzutun. (...) An diesem Abend brach er ihr eine Rippe. Sie schlief auf dem Fußboden. Sie spürte sich nicht mehr. (...)Sie konnte kaum noch laufen. Er hatte sie (...) jeden Tag anal und oral vergewaltigt, er hatte sie geschlagen, getreten und gezwungen, aus einem Napf am Boden zu essen." Am Ende der Erzählung ist der Peiniger tot - erschlagen in seinem Bett. Seine Frau erhält einen Freispruch und beginnt ein neues Leben mit ihrem Nachbarn und Freund Felix. Die Erzählung hinterlässt beim Leser das gute Gefühl, dass hier "Recht" gesprochen wurde... obwohl in den letzten Sätzen klar wird, dass Felix den Mord begangen hat. Die Erzählung besticht nicht nur durch den "Sieg der Gerechtigkeit", sondern auch durch die gelungene Schilderung Schirachs, wie eine junge Frau ohne eigenes Verschulden in eine Situation gerät, die nur tragisch enden kann. Die "böse" Seite des Ehemannes ist nicht vorhersehbar: "Alexandra hatte keine Angst, es würde gut gehen mit diesem Mann. Es war alles so, wie sie es sich gewünscht hatte. Er war liebevolll, sie glaubte ihn zu kennen." Aber können wir einen Menschen wirklich kennen? Zumindest in dieser Erzählung lautet die Antwort "nein". Es bleibt aber vor allem die moralische Frage, wie schuldig jemand ist, der auf Gewalt mit noch größerer Gewalt reagiert und damit ebenfalls zum Täter wird.

Jede der 15 Erzählungen ist auf ihre Weise spannend und kann im Unterricht anhand verschiedener konzeptioneller Leitfragen analysiert werden

1) Welche Erkenntnisse kann der Leser durch den Text gewinnen? (Leser, Verfasser, Texte)

2) Welche moralischen und kulturellen Werte spiegeln sich in dem Text? (Zeit und Raum)

3) Was verbindet Schirachs Erzählungen? Was unterscheidet sie voneinander? (Intertextualität)


Deutscher Rap
28 Aug 2021